Migration

«Mama Merkel» – wie eine syrische Familie ihre zweite Heimat fand

22.08.2025, 08:57

Vor rund zehn Jahren sagte die damalige Kanzlerin Angela Merkel: «Wir schaffen das.» Kurz danach flieht die Familie Daioub Aljwabra von Syrien nach Deutschland. Hat sie es heute geschafft?

Von Mia Bucher, dpa

Binnen weniger Monate überschreiten im Spätsommer 2015 Zehntausende Geflüchtete die deutsche Grenze. Die damalige Kanzlerin Angela Merkel hatte eine weitreichende Entscheidung getroffen: Alle dürfen rein, niemand wird von der Polizei aufgehalten.

«Wir schaffen das», versicherte die Christdemokratin am 31. August 2015 – ein historisches Versprechen. Etwa 1,1 Millionen Asylsuchende suchten in den Jahren 2015 und 2016 in Deutschland Schutz. Auch Rehab Daioub, ihr Ehemann Walid Aljwabra und ihre drei Kinder Suhir, Ayman und Adham flohen in dieser Zeit aus Syrien. Wie geht es ihnen jetzt – und hat sich das Versprechen von Merkel für sie eingelöst?

Gefährliche Flucht übers Mittelmeer

Tochter Suhir (30) und Sohn Ayman (25) leben seit fast zehn Jahren in Deutschland. Nach einer gefährlichen Flucht übers Mittelmeer kommen die beiden am 31. Dezember 2015 über die Grenze. Zwei Jahre später reist der Rest der Familie mit Hilfe von privaten Bürgschaften nach.

Sie flohen vor dem heute gestürzten Diktator Baschar al-Assad, der mit Mord und Folter einen brutalen Krieg gegen die eigene Bevölkerung führte. Die Möglichkeit, auf der Flucht zu sterben, sei groß gewesen, erzählt Suhir. Doch die Möglichkeit, in Syrien zu sterben, sei mindestens genauso groß gewesen.

«Hauptsache in Sicherheit»

«Hauptsache in Sicherheit, und danach eine Zukunft aufbauen», sagt Mutter Rehab, nur das habe gezählt. Sie sitzt mit ihrer Familie auf einer großen Eckcouch im Wohnzimmer. Die Wohnung liegt in einem ruhigen Wohnviertel im Norden von Berlin. Bei ihrer Ankunft vor acht Jahren hätten hier nur Deutsche gewohnt, sagt Sohn Adham. Mittlerweile sei es gemischter.

Das Wohnzimmer ist schlicht eingerichtet, doch mitten im Hochsommer hängen von der Decke bunte Christbaumkugeln – ein Überbleibsel aus der Adventszeit. Rehab schenkt schwarzen Tee ein und zeigt Familienfotos. Es sind Erinnerungen an eine Zeit, bevor der Krieg ausbrach. Glückliche Momente in ihrem Heimatland Syrien. Tochter Suhir sagt: «Ich kann mir nicht vorstellen, wieder in Syrien zu leben, weil ich mir hier ein Leben aufgebaut und ich lange und hart dafür gearbeitet habe.»

Ausbildung, Arbeit, Staatsbürgerschaft

Suhir und ihr Bruder Ayman haben in Deutschland eine Ausbildung gemacht. Suhir arbeitet als medizinisch-technische Assistentin für Funktionsdiagnostik in einem Krankenhaus, Ayman ist Mediengestalter beim Südwestrundfunk (SWR).

Sein Bruder Adham hat das deutsche Abitur gemacht und studiert an der Berliner Hochschule für Technik. Alle drei haben eigene Wohnungen, sie sprechen fließend Deutsch und haben die deutsche Staatsbürgerschaft. Einmal beendet Suhir einen ihrer Sätze mit der berlinerischen Floskel «wa?».

Auch ihre Eltern haben Deutsch gelernt und Arbeit gefunden. Ihre Familie hat nie Sozialhilfe bekommen, das ist Rehab Daioub wichtig zu betonen. Sie arbeitet als Schulhelferin, ihr Mann als Reinigungskraft in einem Krankenhaus.

In Syrien hat Rehab in einer Chemiefabrik gearbeitet, die Dünger herstellt, der 62-jährige Walid war Ölingenieur. «Natürlich haben wir Heimweh, aber wenn wir unser Leben mit dem Leben der Leute in Syrien jetzt vergleichen, sind wir sehr dankbar», sagt die 61-Jährige. «Deutschland ist jetzt wie unsere zweite Heimat.»

Familiennachzug essenziell für die Integration

Das große Glück der Familie: Sie sind zusammen. Das habe einen bedeutenden Effekt auf die Integration, sagt Katrin Albrecht, Geschäftsführerin von Flüchtlingspaten Syrien. «Familiennachzug ist ganz wichtig», sagt Albrecht. Die Bleibeperspektive verbessere sich deutlich, wenn es ein soziales und emotionales Umfeld gebe. «Sie haben eine Motivation, auch ihrer Familie zu beweisen, dass es klappt. Und selbst wenn es nicht klappt, ist die Familie da und sorgt für psychologische Geborgenheit.»

Der Berliner Verein unterstützt syrische Geflüchtete dabei, Familienmitglieder über private Bürgschaften nach Deutschland zu holen. Die Mitarbeiter suchen auch Wohnungen, vermitteln Deutschkurse und unterstützen bei der Jobsuche. Rund 300 Menschen half der Verein seit 2015, mit einem Visum einzureisen, auch Rehab Daioub und ihre Familie gehören dazu. Mit ihrer Bürgin ist Rehab heute befreundet.

4.100 Visa über Verpflichtungserklärungen

Eine steuerpflichtige Person in Deutschland gibt dafür eine Verpflichtungserklärung ab und bürgt dafür, dass fünf Jahre lang keine staatlichen Hilfen in Anspruch genommen werden. In Berlin wurden seit 2013 auf diesem Weg knapp 4.100 Menschen aufgenommen. Deutschlandweite Zahlen erhebt das Auswärtige Amt nach Angaben einer Sprecherin nicht.

Alle Lebenshaltungskosten werden privat finanziert, der Verein macht das mit Hilfe von Spenden. Seit Ende 2024 sind private Flüchtlingsbürgschaften in Berlin nicht mehr möglich. Auch in den anderen Bundesländern besteht diese Möglichkeit Albrecht zufolge nicht mehr.

Hat Deutschland es geschafft?

Viele Syrerinnen und Syrer hätten sich sehr gut in Deutschland integriert, sagt Albrecht. Einige seien richtig durchgestartet und nicht nur für die Gesellschaft, sondern auch für den Arbeitsmarkt eine Bereicherung. Angela Merkels Versprechen, ist es aus ihrer Sicht erfüllt worden?

«Die Frage ist, ob man hinter "Wir schaffen das" eine Integrationsleistung sehen möchte, und das unterscheidet sich von Mensch zu Mensch», sagt die Vereinschefin. Viel wichtiger ist aus ihrer Sicht aber ein anderer Punkt: Die Aufnahme der Geflüchteten habe Tausenden Menschen das Leben gerettet. «Das haben wir geschafft.» Trotzdem sei es auch nach zehn Jahren damit nicht getan.

Familiennachzug gestoppt

Der Bundestag hat entschieden, den Familiennachzug zu Geflüchteten mit eingeschränktem Schutzstatus für zwei Jahre zu stoppen. Das betrifft vor allem Menschen aus Syrien. Albrecht hält die Entscheidung für falsch. «Das sind die guten Integrationsgeschichten, die aus diesem Kontext kommen. Die anderen haben es sehr, sehr viel schwerer.»

Rehab Daioub rührt es noch heute zu Tränen, wenn sie an die Einreise nach Deutschland und das Wiedersehen mit ihren Kindern denkt: «Es war ein Traum.»

Rückkehr keine Option

Nach dem Sturz des Assad-Regimes organisiert das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge seit Mitte Januar freiwillige Ausreisen nach Syrien. Vorläufigen Zahlen zufolge gab es bisher 804 Ausreisen (Stand 31. Mai). Ende 2024 lebten nach Regierungsangaben 975.000 Syrerinnen und Syrer in Deutschland.

Für die Familie Daioub Aljwabra ist eine Rückkehr keine Option. Ihre Zukunft liegt in Deutschland. «Es war eine große Herausforderung, unser Leben wieder aufzubauen. Die Sprache ist schwierig, wir sind nicht jung, und trotzdem haben wir es geschafft», sagt Rehab. Sie sei Deutschland sehr dankbar, besonders Frau Merkel. «Mama Merkel», ergänzt ihr Mann und lacht.